2014 sollte das Jahr der Jubiläen werden. Erik van Heijningen und Tina Mastenbroek wollten Silberhochzeit feiern. Außerdem würde Tina 50 Jahre alt. Und seit 25 Jahren war sie Lehrerin. Doch aus den drei großen Festen wurde nichts. Stattdessen versank ihre Familie in Trauer.
AUFGEZEICHNET VON TONNY VAN DER MEE
Das Zeugnis von Zeger van Heijningen hängt an einer Pinnwand, als Beweis dafür, dass er die fünfte Klasse des Atheneums mit Erfolg abgeschlossen hat. “Gut gemacht, Zeger!” schreibt ihm sein Mentor am Comenius College in Hilversum. Im Schrank liegt ein Reiseführer, für die nächste, schöne Reise. Als Reiseziel hatte sich Zeger Russland und die Ukraine ausgesucht.
Die Katastrophe ist schon passiert. Und das Leben im Haus von Erik, Tina und Zeger van Heijningen steht still. Nur Kummer und Leere sind hier noch zu finden. Im Haus ist es kalt; so kalt, dass man meint, es nie mehr behaglich heizen zu können.
Die eisige Kälte hat Robbert van Heijningen getroffen, als er zum ersten Mal nach der Katastrophe ins Haus seines toten Bruders kommt. “Es ist, als ob das Haus von Erik, Tina und Zeger atmet.“ Als könnten sie wieder reinkommen. Jederzeit.
Im Schlafzimmer von Zeger liegen Magic Cards herum, Spielkarten mit Phantasiefiguren. Er sammelte sie und beteiligte sich an Wettbewerben. “Ich dachte, ich könnte Zeger spüren,” sagt Robbert. “Ich ging in sein Zimmer und sprach mit ihm. Ich öffnete das Fenster, sah seine Sachen. Und dann ahnt man doch, dass sie nicht mehr da sind.“
Robbert geht in das Wohnzimmer. Er schaltet den CD-Spieler ein, ohne drauf zu achten, was eingelegt ist. Steve Harley. Die erste Nummer war “The last goodbye“. Im Geschirrspüler liegt ein einsamer Teller; möglicherweise hat Erik ihn in Hektik dort abgestellt.
Tina und Zeger sind am Morgen des 17. Juli 2014 nach Schiphol gefahren. Erik kam nach. Er musste sich beeilen. Die Nachbarn sahen, wie er sich aufs Fahrrad setzte, mit dem Koffer auf dem Gepäckträger. “Wahrscheinlich war er nur ganz knapp den Flug nicht verpasst,” sagt Robbert. “Vielleicht ist es auch gut so, dass sie alle zusammen umgekommen sind.“
Robbert, seine Frau Loes und ihr zwölfjähriger Sohn Jasper sind zu der Zeit auf dem Campingplatz in Frankreich. Sie wollen drei Wochen bleiben. Loes ruft kurz ihre Mutter an, um zu sagen, dass alles in Ordnung ist. Die Mutter erzählt, dass ein Flugzeug mit niederländischen Passagieren über der Ukraine abgeschossen worden sei.
Robbert und Loes denken sich nichts weiter dabei. Eine schlimme Nachricht. Eine von vielen auf der Welt. Nur näher. Ihr Land ist betroffen.
Am nächsten Tag rufen Angehörige von Tina Mastenbroeck an. “Ich hatte gerade geduscht, als ich die Nachricht hörte,” sagt Robbert. “Ich dachte, das kann nicht wahr sein.
Die müssen etwas falsch verstanden haben.“ Es gab keine Bestätigung. Im Internet finden sie einen Notruf. Das Aussenministerium kann nichts sagen und der Notruf der Malaysia Airlines ist nur während irgendwelcher Bürostunden erreichbar. Die Telefonistinnen weinen. “Ich fühlte mich hilflos,” sagt Robbert. Einen Tag später sieht er die Namen von Erik, Tina und Zeger im Internet. Drei Tage nach dem Absturz folgt die Bestätigung.
In den ersten Tagen richtet sich ihr Zorn gegen die prorussischen Separatisten. “Unser Sohn Jasper verfluchte die Russen und Putin. Er sagte, das kann zu einem dritten Weltkrieg führen. Ich gab ihm recht. Auch in meinen Augen waren es Mörder,” sagt Robbert. “Aber schon bald beruhigte ich mich und kam zur Besinnung. Ich glaube nicht, dass es absichtlich passiert ist. Erik, Tina und Zeger haben einfach unglaublich viel Pech gehabt. Auch wenn das nicht unseren Kummer verringert.“
Robbert und Loes bleiben in Frankreich, damit Jasper weiter Ferien machen kann. “Das Wetter war schlimm. In der Nähe war ein Wald verwüstet. Es sah aus wie ein Kriegsgebiet. Dunkle Wolken, ein einzelner Baum, ein leerer Stausee. Das war symbolisch für unsere Ferien. Das Wetter und die Umgebung trauerten mit uns.“ Während dieser Ferien redeten sie viel. Es tat Jasper weh, seinen Vater so traurig zu sehen. Und er fand es schlimm, dass er seinen Cousin Zeger nicht besser kennenlernen konnte.
Erik und Tina hatten sich in einem Amsterdamer Studentenverein ineinander verliebt. Tina studierte dort Niederländisch, Erik Wirtschaft. Sie heirateten im Rathaus in einem Zimmer, das der Künstler Wim Schippers eingerichtet hatte. Alles hing dort schief. Sie fanden das toll.
Erik hatte nur einen Ring gekauft, denn selber wollte er keinen. Das fand er albern. Als er die Braut küssen durfte, schüttelte er ihre Hand.
Tina war sehr ordentlich und höflich. Sie unterrichtete bald am Roland Holst College in Hilversum. Überall in ihrem Haus am wilden Heideland sind Bücher. Erik arbeitete bei der Nationalen Nederlanden Bank als Risikoanalyst. “Für ihn war Amsterdam alles. Er fuhr sogar von Hilversum zum Markt am Albert Cuyp Platz in Amsterdam, um dort Einkäufe zu erledigen. Er liebte dieses Durcheinander der Kulturen.“
Erik war ein Weltenbummler. Er wollte reisen, Länder entdecken, mit einer Vorliebe für spanisch-sprachige Kulturen. Meistens plante er Familienreisen. Tina und Zeger machten zwar ihre Wünsche klar, aber ließen sich gerne von Erik überraschen.
Dieses Mal war es Bali. Vor der Abfahrt kauften sich Tina und Zeger am Albert Cuyp noch die Sachen für den Urlaub. Ein paar neue Kleider, etwas zu lesen. “Zeger sagte, dass er sich Sorgen machte. Eine Flugreise mit Malaysia Airlines. Stell dir vor, da könnte doch einiges passieren,“ erinnert sich Robbert.
In den Niederlanden werden die ersten Leichen nach Hause geflogen. Robbert sieht das im Fernsehen auf seinem Campingplatz. “Nach einer halben Stunde bin ich gegangen. Ich konnte es nicht mehr ertragen,“ sagt Robbert. Loes und Jasper versuchen, sich an einem Strand zu entspannen als um 16 Uhr das öffentliche Leben in den Niederlanden aus Respekt für die Opfer zum Stillstand kommt. Ein surrealer Moment. Rund um Robbert, Loes und Jasper, die Leidenden, sind nur fröhliche Menschen, die sich über das Wetter freuen.
Am Samstag, 26. Juli transportieren ein australischer C-17 und ein niederländischer C-130 erneut 38 Kisten nach Holland. In einer dieser Kisten liegt Erik, erfahren Robbert, Loes und Jasper später.
Im August ruft ein Ermittler an. Er sagt: “Wir haben Neuigkeiten. Wir kommen zu Ihnen.“ Robbert weiß, was kommt. Sie haben seinen Bruder identifiziert. Eriks Körper sei noch verhältnismäßig unbeschädigt gewesen, sagen die Ermittler. Sie könnten Bilder zeigen, wenn er wolle, raten aber davon ab. Zu schrecklich sei das, was man sehen würde.
Noch gibt es keine Informationen über Tina und Zeger. Eriks Körper bleibt in der Kaserne, bis er mit seiner Frau und seinem Sohn wiedervereinigt werden kann. Die Kiste ist mit der niederländischen Flagge überdeckt, wie es bei jedem identifizierten Opfer der Fall ist. Die Hinterbliebenen sollen unbedingt als Familie zusammen beerdigt werden.
Zwei Tage nach der Identifikation von Erik widmet Hilversum den Opfern der Stadt einen Nachruf. Drei Familien sind gestorben, insgesamt 15 Personen. An der Gedenk- feier in der Sankt Vitus Kirche und einem Marsch durch die Stadt beteiligen sich mehr als tausend Personen, sie tragen weiße Rosen und Luftballons. 298 weiße Tauben werden freigelassen.
Erst einen Monat später werden Tina und Zeger identifiziert. Nur wenig ist von ihnen geblieben. Die Familie hatte Sitze in MH17-Reihe 22, am Mittelgang, beim rechten Flügel. An dieser Stelle müssen die Einschläge der Rakete am stärksten gewesen sein, heißt es. “Wir denken, dass Erik gerade in diesem Augenblick zur Toilette gegangen sein muss oder einfach im Flugzeug herumspazierte. Er brauchte ja immer Platz. Wahrscheinlich haben sie nichts vom Einschlag mitgekriegt oder überhaupt etwas gefühlt. Sie müssen sofort tot gewesen sein,” sagt Robbert.
Nach drei Monate werden Erik, Tina und Zeger beerdigt. Die Fahne des Comenius College hängt auf Halbmast. Zwei Tage vorher wurden die Körper übergeben. Die drei Särge tragen keine Nummer mehr, sondern einen Namen. “Dann durchdringt es einen erst richtig,” sagt Robbert. Einige hundert Menschen sind da. Kommilitonen, Freunde, Kollegen, Mitschüler.
Achtzehn Studenten tragen die Särge in die Trauerwagen. Der Trauerzug fährt noch einmal am Haus von Erik, Tina und Zeger vorbei und dann weiter zum Krematorium. “Es ist schön, dass wir diese Episode abschließen können,“ sagt Robbert. “Erik wäre sicher sehr wütend, wenn wir an seiner Stelle gestorben wären. Er hatte ein großes Gefühl für Gerechtigkeit. Er kannte keinen Mittelweg. Mir geht es nicht um Rache. Was hier geschehen ist, wollte niemand. Wenn man im Zorn verharrt, kann man den Tod seiner Verwandten nicht verarbeiten. Man gewinnt sie ja sowieso nichts mehr zurück.“