Elsemiek de Borst ist auf dem Weg in die Ferien. Mit ihrem Halbbruder, ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Ihrem leiblichen Vater schreibt sie noch eine Botschaft. „Tschüß Vati! Wir fahren um 9 Uhr ab. Abflug um 12 Uhr. XX“. Dann wird sie getötet.
AUFGEZEICHNET VON TONNY VAN DER MEE
Es gibt noch ein Video von Elsemiek de Borst. Sie hat es mit ihrem iPhone aufgenommen. Es zeigt sie im Wohnzimmer ihrer Eltern. Elesmiek spielt auf dem Klavier ‘La comptine d’un autre été’, den Soundtrack des französischen Films Amélie. Die Finger von Elsemiek laufen über die Tasten, sie ist in Konzentration versunken. Dieses Video ist für ihren Vater Hans de Borst das wichtigste, das wertvollste, was ihm geblieben ist. Wie der Ring ihrer Großmutter, den Elsemiek immer um ihren Finger trug, bis sie starb, abge- schossen über der Ukraine.
An der Wand hängt ein lebensgroßes Foto von ihr. Elsemiek posiert strahlend in der Brandung am Strand von Sri Lanka. Das war vor zwei Jahren, als sie ihre letzte große Reise zusammen mit ihrem Vater machte. Die Eltern hatten sich vor ein paar Jahren getrennt. Eigentlich mochte Hans de Borst solche Reisen nicht besonders. Er fuhr lieber nach Mallorca oder in die Ferienwohnung nach Brabant. Elsemiek war das nicht genug. “Fahr du nur in den Naturpark De Hoge Veluwe,“ sagte sie. “Ich will weiter weg.“
Am 17. Juli 2014 flog Elsemiek mit ihrer Mutter Esther, ihrem Stiefvater Sergio Ottochian und ihrem Halbbruder Julian für drei Wochen in den Urlaub. Sie wollten nach Malaysia. In die Südsee. Auf die Inseln.
Elsemieks Mutter Esther hatte bis 2007 als Juristin im städtischen Entwicklungsdienst gearbeitet. Sergio Ottochian hatte Flug- und Raumfahrttechnik studiert und arbeitete nun bei der Ölfirma Xodus. Nebenher war er ehrenamtlicher Schiedsrichter beim Fußballverein HBS. Julian war dort Torwart in der Jugendmannschaft.
Nach der Trennung ihrer Eltern wohnte Elsemiek bei ihrer Mutter in Den Haag. Aber fast jedes Wochenende war sie beim Vater in Monster. Hans De Borst sagt: “Wir sahen uns nicht oft, aber unsere Beziehung wurde immer enger.“
Sie liebte Leichtathletik und Maschinenbau
Elsemiek war eine besondere Schülerin, erinnert man sich an ihrer Schule, am Segbroek College. Sie war begeistert, klug, gesellig. Sie brauchte sich nicht besonders anzustrengen für gute Noten. Mit ihrem Vater war sie in diesem Jahr in der technischen Universität in Delft. Elsemiek hat sich für Maschinenbau interessiert. Mit glänzenden Augen und offenem Mund hörte sie sich die Geschichten der Professoren an, erinnert sich ihr Vater. Das war ihre Zukunft. Technik, Maschinen, Wissenschaft.
Zu Hause war Elsemiek bescheiden, nicht frech, besonnen. Sie war kein störrischer, starrköpfiger Teenager. Sie machte Leichtathletik. Sie ging zusammen mit ihrer Mutter zum Zumba-Training. Sie passte auf die Kinder der Nachbarn auf und wollte in den Ferien ihren Führerschein machen.
Ein normales Kind in einer normalen Welt mit normalen Träumen. Sie wollte nieman- den etwas böses, nur ein normales Leben in Sicherheit.
Elsemiek schaute sich mit ihren Freundinnen zu Hause Filme an und aß Pizza. Am Wochenende jobbte sie im Poffertjesrestaurant Klein Seinpost in Kijkduin. Hans de Borst erinnert sich: “Sie wurde langsam eine selbstbewusste Frau. Sie wusste, was sie wollte, aber zankte sich nicht mit anderen rum.“
Am Abend vor der Abreise gab Hans de Borst seiner Tochter noch ein Lesebuch mit. Am Morgen der Reise schickten sie einander noch ein paar SMS-Nachrichten. Schließlich schrieb Elsemiek um vier Minuten nach acht: „Tschüß Vati! Wir fahren um 9 Uhr ab. Abflug um 12 Uhr. XX.”
Eine Minute später antwortete Hans de Borst: „Gute Reise. Vielleicht kannst du dir einen Film anschauen oder sonst was! Auf Wiedersehen, mein Liebling. XX.“
Am Nachmittag geht eine Etappe der Tour de France zu Ende. Der Fernseher flimmert. Die Nachricht vom Abschuss des Fluges MH17 kommt herein, wie ein Orkan. In dieser Maschine saß seine Tochter.
Für Hans de Borst ist seither nichts mehr, wie es war. Seine Welt bricht zusammen. Er schreibt über Facebook einen Brief an den Präsidenten der Ukraine, an den Präsidenten von Russland, Vladimir Putin, an die Führer der Separatisten. Sie haben seiner Meinung nach seine Tochter ermordet.
“Ich hoffe, ihr seid stolz darauf, das Leben und die Zukunft meiner Tochter – zusammen mit so vielen anderen – getötet zu haben. Ich hoffe, ihr könnt morgens in den Spiegel schauen.“
“Sie wurde einfach vom Himmel geschossen! In einem unbekannten Land, in dem ein Krieg herrscht,“ schreibt Hans de Borst. “Es kam unmittelbar aus meinem Herzen. Ich wollte jedem meine Tochter zeigen, das schönste Kinder der Welt. Drei Wochen nach der Katastrophe wurde sie identifiziert.“
Bei ihrer Beerdigung fuhr der Trauerzug am Segbroek College vorbei, wo Elsemiek gerade ihr Abitur machen wollte. Ihre Mitschüler nahmen Abschied.
“Es gibt ein Grab, das ich besuchen kann. Das fühlt sich gut an. Sonst ist mir alles egal geworden. Alles ist nur noch ein Abklatsch von dem, was hätte sein können. Ich könnte jetzt auch mit Elsemiek auf dem Sofa herumlungern, im Fernseher herumzappen, reden, Tee trinken, ich könnte ihr Taxi sein. Ich vermisse sie jeden Tag.”