Estella und Judith Vermeulen waren mehr als nur Schwestern aus der niederländischen Pro- vinz Zeeland. Seit mehr als 20 Jahren lebten sie gemeinsam in einer Wohnung in Luxemburg. Auch als Estella eine neue Familie mit ihrem zweiten Mann gründete, blieb Judith. Mit ihrem Mann Andrew und ihren jüngeren Söhnen Jasper und Friso kam Estella bei der Tragödie mit dem Flug MH17 ums Leben. Judith blieb alleine mit Estellas Sohn Rink aus einer früheren Beziehung zurück. Entsetzt und einsam im großen Luxemburger Haus.
AUFGEZEICHNET VON JEROEN SCHMALE
Im Garten hinter dem Haus im Luxemburger Ort Roeser ist ein Loch in der Wiese. Über dem Loch stand bis in den Sommer 2014 ein Trampolin, auf dem die beiden Söhne von Estella Vermeulen voll Spaß herumgeturnt sind. Der 14jährige Jasper und sein 12jähriger Bruder Friso fanden das riesig. Sie lachten, tobten. Jetzt sind sie tot. Wie ihre Mutter Estella, wie ihr Vater Andrew Hoare.
Das Trampolin hat Judith entfernt. Es erinnerte sie jeden Tag an ihren Verlust. Zurück blieb das Loch. Im Haus allerdings ist alles noch so, als könnten die beiden Jungs jeden Moment hereinstürzen. Unter dem Kleiderständer stehen Plastikboxen mit ihren Namen, für ihre Schuhe. Jasper und Friso kommen nicht mehr nach Hause. Nur ihr Halbbruder Rink, Estellas Sohn aus einer früheren Beziehung, kommt noch manchmal vorbei. Er wohnt als Student in Wageningen. Judith ist alleine. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hat immer mit ihrer Familie gelebt. Judith hat keine Kinder. Sie zeigt auf die Plastikboxen unter dem Kleiderständer und sagt: „Ich kann es nicht übers Herz bringen, sie wegzuräu- men. Ich kann es einfach nicht.“
Judith sitzt am Tisch im Wohnzimmer, sie schaut sich auf dem Computer Fotos ihrer Schwester an. Sie sieht ihren Schwager und die beiden Neffen. Eine halbe Stunde dauert es, bis sie alle Bilder gesehen hat. Erinnerungen an die Ferien, an Familienbesuche, an Feiertage, an Geburtstage.
Fast jedes Jahr ließen Andrew Hoare und Estella Vermeulen Familienbilder machen. Auf dem Computer sieht Judith zu, wie sich die Familie ihrer Schwester wandelt, wie die Kinder älter werden, reifer; von zwei süßen Kids zu zwei klugen Teenagern.
Judith schaut sich die Bilder oft an, sehr oft sogar. Niemals geben sie ihr die Antwort auf die Frage: Warum ist das passiert? Judith und Estella sind Töchter eines Zahnarztes aus der niederländischen Provinz Zeeland. Sie haben alles miteinander geteilt. Ihre Kleider, ihre Tränen, ihre Erinnerungen, ihre Ängste, ihre Zukunft, ihr Essen, ihr Haus.
Als ihre Beziehung zu ihrem damaligen Mann zu Ende ging, lebte Judith in Spanien. Kurze Zeit später trennte sich Estella vom Vater ihres Sohnes Rink. „Estella schlug vor, dass ich zu ihr nach Luxemburg ziehen sollte,“ sagt Judith.
Und so kam es. Die einzige Bedingung: Wenn eine einen neuen Mann finden sollte, würde die andere ausziehen.
Estella lernte in ihrem Laufverein den britischen Bankier Andrew kennen. Sie verliebten sich. Judith zog in eine Etagenwohnung in Luxemburg. „Später kauften Estella und Andrew dieses Haus und bauten es um. Sie fragten mich, ob ich auch hier einziehen will. Ich bekam eine eigene kleine Etage, direkt am Garten“, erinnert sich Judith.
Einen eigenen Garten. Das war es, was sie sich wünschte. Sie hatte alles: eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und den Kontakt zur Familie, zu den Kindern. „Andrew und Estella brauchten selber nur wenig. Alles war auf die Kinder gerichtet, das Haus war für jedes Kind ein Paradies. Sie waren Mustereltern.“
Jasper tat sich schwer mit dem Lesen. Viele Stunden saß Estella mit ihm am Küchentisch, um zu helfen. Jede Woche fuhr sie mit ihm nach Maastricht zum Förderunterricht. Die Jungs waren sportlich. Auf dem Rasen spielten die Kinder oft mit Andrew Fußball oder Kricket. Friso war außerdem künstlerisch begabt, konnte fabelhaft zeichnen. Er einen eher sanften Charakter.
Estella hatte mit Andrew ihre große Liebe gefunden. Judith selbst hatte nicht so viel Glück. In Namibia verliebte sie sich in einen Farmer. Doch der konnte sich nicht an ein Leben in Luxemburg gewöhnen. Judith selbst hielt es nicht in Namibia aus. Die Beziehung scheiterte. Judith sagt: „In solchen Situationen hat Estella mich aufgefangen, genauso wie ich ihr half, als ihre Beziehung mit Rinks Vater kaputt ging.“
Vor kurzem hat Judith eine neue Beziehung angefangen, mit einem Mann aus der niederländischen Provinz Drenthe. Sie besuchen sich jedes Wochenende.
Das Letzte, was die Schwestern zusammen gemacht haben, war ein Einkaufsbummel in der Stadt Luxemburg. Sie wollten sich neue Sachen kaufen. Estella sagte, für einen neuen Mann braucht man neue Kleidung.
Judith hat Estella, Andrew, Friso und Jasper geholfen, die Koffer zu packen für ihre Reise nach Asien. Insgeheim hatte sie sich darauf gefreut, das Haus eine Weile für sich zu haben. Jetzt ist es ihr leid. Insgeheim hatte sie sich darauf gefreut, das Haus eine Weile für sich zu haben. Jetzt ist es ihr leid.