Die 13-jährige Gita Wiegel hat in diesem Jahr zum ersten Mal in ihrem Leben darauf ver- zichtet, ihre Familie auf Bali zu besuchen. Stattdessen wollte sie lieber etwas Geld bei der Erdbeerernte verdienen. Ihre Mutter Pris Rangin ging alleine an Bord von Flug MH17.
AUFGEZEICHNET VON JEROEN SCHMALE
Die 13-jährige Gita Wiegel aus Almelo liebt Erdbeeren. Deshalb weiß sie auch ganz genau, was sie trinken möchte, als sie mit ihrer Mutter Pris Rangin und deren Freund Vincent das Starbucks-Cafe am Flughafen Amsterdam-Schiphol besucht: ein Frappuccino Strawberries & Cream muss es sein. Das ist das Abschiedsgetränk. Wenn der Erdbeer-Frappuccino leer ist, wird die Mutter nach Bali fliegen. Zu ihrer Familie.
Pris Rangin ist ein Passagier von Flug MH17. Sie wurde auf Bali geboren. Sie besitzt dort noch immer ein Haus. Pris will ihre Familie besuchen und vor allem die Sonne und das Meer genießen.
Gita sagt, dass sie zum ersten Mal nicht mitflog nach Bali. Sie wollte lieber Geld verdienen. Gita spricht ruhig und klar und benutzt Worte wie ein Erwachsener. Sie macht nicht den Eindruck einer 13-Jährigen. In der Grundschule durfte sie eine Klasse überspringen, jetzt besucht sie die dritte Klasse des Gymnasiums – vielleicht spielt das eine Rolle.
“Ich wollte diesen Sommer gerne Geld verdienen bei der Erdbeerernte in Vriezenveen. Das hört sich vielleicht ein wenig blöd an, aber es war meine Chance, Geld zu verdienen. Ich wollte noch mit meinem Vater Ferien in Deutschland machen. Deshalb bin ich in diesem Jahr nicht nach Bali mitgekommen.“
Gitas Vater heißt Arjan Wiegel (36). Er lernte Pris kennen, als er mit seinen Eltern eine Ferienreise nach Bali machte. Die beiden verliebten sich; Arjan besuchte Pris noch einige Male, bis sie es wagte, nach Twente zu ziehen. Gita wurde geboren, aber die Ehe scheiterte nach fünf Jahren.
Arjan lebt heute in der Nähe von Wierden, zusammen mit seiner neuen Frau Martine. Die beiden haben einen Sohn und eine Tochter. Der Kontakt zwischen Gita und Arjan war immer gut, aber vor allem die Beziehung zwischen Gita und ihrer Mutter war stark. Gita sagt: “Sie war mein Ein und Alles, wir haben alles zusammen gemacht. Sie war meine Mutter, Freundin, mein Kumpel und meine Mitbewohnerin.“
Gita und ihre Mutter hatten die gleichen Träume von der Zukunft. Pris arbeitete bei McDonalds in Almelo und versuchte, dort eine bessere Stellung zu bekommen. Gerade vor der Abreise nach Bali hatte sie eine intere Prüfung abgelegt, um im Management aufzusteigen. Ob sie diese bestanden hat, sollte sie nach den Ferien erfahren. Eine Beförderung hätte vieles einfacher gemacht.
In ein paar Jahre wollten sie nach Den Haag ziehen. Dort sollte Gita das Gymnasium abschließen und dann Medizin studieren. In Den Haag wohnte auch Vincent, die neue Liebe von Pris. Und es ist die einzige große Stadt in den Niederlanden, die unmittelbar am Strand liegt.
Gita sagt: “Mama vermisste in Almelo vor allem das Meer, das sie auf Bali immer um sich hatte. Ich mag in Den Haag all diese Geschäfte. Und es gibt dort zwei Starbucks-Filialen, wo man Frappucciono mit Strawberry & Cream bekommen kann.“
Auf dem Flughafen Schiphol verabreden Gita, Pris und Vincent, direkt nach dem Urlaub wieder nach Den Haag zu fahren. Eigentlich wollte Gita schon vorher mit einer Freundin von Almelo aus nach Den Haag fahren, aber das durfte sie nicht. Das war Pris zu gefährlich. Ihre kleine Tochter in einer großen Stadt.
Auf dem Flughafen machen sie Fotos voneinander und auch ein paar Selfies, um die Zeit bis zum Abflug rumzubringen. Gita und Pris klettern auf eine Gepäckwaage und lachen. Gita: “Wir hatten immer Spaß.“
Vor der Passkontrolle umarmen Mutter und Tochter sich noch einmal. Sie weinen. Der Abschied fällt schwer. Vier Wochen ohne einander, solange waren sie noch nie getrennt. Dann lässt Pris los und geht zu Gate G3. Sie steigt in den Flug MH17.
Vincent fährt mit Gita noch nach Amsterdam. Sie machen einen Einkaufsbummel. Am Abend wollen sie zurück nach Almere. Sie kommen nicht weit. Als sie im Primark Kleidung anprobieren, ruft Vincents Mutter an. Sie hat eine schreckliche Nachricht.
Gita schreibt in ihrem Blog: “Ich wusste nicht, was los war und was alles gesagt wurde. Vincent konnte kaum atmen und sagte mir, dass ich zahlen solle. Ich bin buchstäblich zur Kasse gerannt. Danach sind wir sofort nach draußen gegangen. Er erzählte mir, das Flugzeug meiner Mutter sei wohl abgestürzt.“
Gita sagt: “Wir sind dann zum Bahnhof gegangen, haben uns hingesetzt und nur noch geweint. Bis ein Bahn-Mitarbeiter auf uns zukam und wir ihm erzählten, was los war. Er hat uns dann angeboten in der ersten Klasse nach Almelo zu fahren.“
Mit ihrem Vater fährt sie am Abend im Auto zurück nach Schiphol, hier bekommen sie erste Auskünfte. “Die meisten Leute waren sehr wütend. Das ist verständlich, aber auch unangenehm. Als wir den Namen meiner Mutter auf der Passagierliste sahen, wussten wir mit Sicherheit, dass sie tot war.”
14 Stunden waren nur vergangen, seit Gita sich unter Tränen von ihrer Mutter verabschiedet hatte. “Ich konnte nicht mehr schlafen, bis ich nach einigen Tagen völlig erschöpft war und nicht mehr weiter konnte. Dann ist der Schlaf wie von selber gekommen.”
Heute verläuft das Leben von Gita nach außen hin wieder fast wie normal. Sie wohnt bei ihrem Vater und dessen Familie in Wierden. Im oberen Stock arbeitet ihr Großvater an einem eigenen Mädchenzimmer für Gita. Sie streichelt ihrem jüngeren Halbbruder und ihrer Halbschwester über den Kopf. Sie besucht ihre alte Schule in Almelo.
Sie will ihre Mutter in Ehren halten. Gita lernt fleißig. Das war ihrer Mutter wichtig. Ihr Zeugnis hat nur gute Noten und auch nach der Katastrophe macht sie weiter. “Ich will meiner Mutter zeigen, dass sie auf mich stolz sein kann.“
„Am Ende der Sommerferien bekamen wir die Nachricht, dass meine Mutter identifiziert worden ist. Einerseits war es gut, die Bestätigung zu erhalten für das Schreckliche. Andererseits war es jetzt endgültig.“
Die Gedenkfeier in der Pfingstgemeinde De Banier in Almelo war fröhlich. “Auch wenn meine Mutter nicht mehr da ist, will ich nicht nur noch traurig sein,“ sagt Gita. “Ich habe einige Kirchenlieder ausgewählt, es gab viele Redner und auch ich habe gesprochen und Bilder gezeigt von meiner Mutter und mir. In einem Film konnte man meine Mutter sehen, wie sie bei mir auf dem Fahrrad sitzt und schreit, weil sie Angst hat umzufallen.“
Ein Kollege ihrer Mutter erzählt Gita, ihre Mutter habe die Prüfung bei McDonalds glänzend bestanden. Nach der Reise nach Bali hätte man sie befördert.
Gita schreibt in ihrem Blog: “Mutti, ich dachte, ich müsse dich vier Wochen lang ver- missen. Aber jetzt bist du für immer weg. Ich vermisse dich so sehr. Nächste Woche hättest du Geburtstag, ich wollte Dir und mir einen schönen Tag daraus machen und mit dir facetimen. Dann hätte ich auch in der Ferne bei Dir sein können. Du warst noch so jung, du warst mein Vorbild. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen soll.“ Nach der Gedenkfeier gab es Erdbeerkuchen.