DIE FAKTEN
- Am 17. Juli 2014 wurde der Malaysia Airline Flug MH17 über der Ostukraine abgeschossen. Alle 298 Insassen starben. Die Nato zeigte schon Mitte Juni Bilder von russischen Panzern in der ostukrainischen Stadt Snizhne. Der Bundeswehr und der Nato ist bekannt, dass sich russische Panzer in Feindesland nur mit dem Schutz eines BUK-Raketensystems bewegen. Damit war die Flughöhe klassischer Ferienflieger seit Mitte Juni Kampfzone. Deshalb hätten die Bundesregierung und alle anderen Nato-Staaten nach Recherchen von CORRECT!V ihre Fluggesellschaften spätestens seit dieser Erkenntnis vor Flügen über der Ostukraine warnen müssen. Die niederländische Regierung hat dies bereits bestätigt. Die deutsche Regierung weist dies noch zurück.
- CORRECT!V hat vor Ort Zeugen des Abschusses von MH17 in der Ostukraine gefunden. In einer aufwändigen Recherche in Wien, den Niederlanden, der Ukraine und in Russland haben wir zudem mit Militärexperten, Warlords der Separatisten, ehemaligen BUK-Ingenieuren und ehemaligen Soldaten aus der 53. russischen Luftabwehrbrigade gesprochen. Alle sind sich im Gespräch mit CORRECT!V sicher: Die Separatisten waren nicht in der Lage ein solch hochkomplexes System zu bedienen. Nur russische Offiziere können den Befehl zum Abschuss von MH17 gegeben haben.
- Fotos und Videosequenzen einer BUK-Abschussrampe wurden am 17. Juli im Separatistengebiet der Ostukraine fotografiert. Das internationale Investigativ-Team Bellingcat hat die Abschussrampe in einer Online-Recherche der 53. russischen Luftabwehrbrigade zugeordnet. CORRECT!V hat die Standorte der Beweisfotos aus dem Netz in der Ostukraine überprüft.
- Die Ergebnisse veröffentlicht CORRECT!V gemeinsam mit dem Spiegel und dem Algemeen Dagblad.
Lesezeit: circa 20 Minuten
Monatelang haben Marcus Bensmann und David Crawford zum Tod der 298 MH17-Passagiere recherchiert. Im Interview sprechen die beiden CORRECT!V-Reporter über Zeugen in der Ostukraine, lebensgefährliche Überfälle und die Suche nach Fakten in einem Propaganda-Krieg.
Warum habt Ihr den Abschuss von MH17 recherchiert?
David Crawford: Der Abschuss ist eines der größten und politischsten Verbrechen der vergangenen Jahre. Wer hat die Maschine abgeschossen? War es ein Unfall? Ein Versehen? Oder Absicht? Die Antwort auf diese Fragen kann extreme politische Implikationen haben – national und international.
Wann habt Ihr mit der Recherche begonnen?
Marcus Bensmann: Wir haben im August 2014 begonnen, Material zu sammeln. Im September haben wir dann auf der Basis der damals bekannten Informationen begonnen, eine Strategie zu entwickeln. Das hat uns die nötige Distanz gegeben. Wir konnten uns in Ruhe einen Überblick verschaffen. Wo sind Widersprüche?
Crawford: Ich fand es wichtig, dass der große Medienhype vorbei war. Sehr viele Leute waren am Absturzort, Journalisten haben mit Trümmerstücken posiert. Aber die entscheidenden Fragen waren alle noch offen: Wer hat geschossen? Wie ist es geschehen? Aus der Luft oder vom Boden aus? Und vor allem interessierte uns: Warum wurde geschossen? Wir als Investigativjournalisten brauchten den zeitlichen Abstand und die Ruhe. Um Zeugen zu finden, um mit Beteiligten zu sprechen und um Antworten zu bekommen, die nicht durch politische Absichten motiviert sind. So hatten wir die Chance, zum Kern der Sache vorzudringen.
Bensmann: Man darf nicht vergessen, der Absturz steht im Kontext der Ukraine-Krise. Es gibt hier eine riesige Propaganda-Schlacht. Die eine Seite sagt, Russland ist der Aggressor. Die andere sagt, Russland hat sich nur verteidigt. Beide Seiten haben ihre Narrative. Allein dieses Wort ist schon so furchtbar: Narrative. Wenn es keinen Täter mehr gibt und keinen Tatort. Wenn es nur noch verschiedene Betrachtungen der Realität gibt und jeder hat das Recht, seine Interpretation zu nutzen. Wenn man das dann Narrativ nennt – und akzeptiert – dann sind wir am Ende. Deshalb haben David und ich gesagt: Es gibt eine Realität. Und die suchen wir.
Die Recherche
Ganz konkret: Womit habt ihr angefangen? Was war das erste Puzzlestück?
Crawford: Wir wollten zuerst wissen: Wer hat was wann gesagt? Dann haben wir angefangen, die Aussagen zu überprüfen, nachdem wir genügend Puzzleteile gesammelt hatten. Die wichtigen Nationen haben sich widersprochen. Was Land A sagte, schloss Land B aus. Wir wollten wissen: Was stimmt? Oder stimmen beide Versionen nicht?
Bensmann: Es gibt unterschiedliche Versionen, aber es gibt auch Punkte, die übereinstimmen. Diese Punkte mussten wir finden, denn wenn verschiedene Seiten bei der Betrachtung der Lage zum selben Schluss kommen, können wir diese Schlüsse auf die Seite legen und sagen: gut, damit können wir arbeiten, diese Eckpunkte scheinen der Realität nahe zu kommen.
Crawford: Bei einigen Punkten waren wir selber überrascht. Vor allem beim Tatwerkzeug. Es gab eine Abschussrampe der Bauart BUK in der Nähe des Abschussortes zur Abschusszeit mit der man das Flugzeug hätte abschießen können. Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Fakt von allen Seiten anerkannt wird.
Bensmann: Russland bemüht sich, eine zweite Theorie aufzubauen. Die dortige Propagandamaschine bringt immer wieder Zeugen und Behauptungen vor, MH17 hätte auch aus der Luft hätte abgeschossen werden können. Gleichzeitig sagt Russland, dass es die BUK gab, die Abschussrampe. Wenn also vom Boden geschossen wurde, dann wurde eine BUK-Rakete abgefeuert. Da sind sich alle einig.
Crawford: Ein sehr wichtiger Punkt ist auch das Waffensystem. Wenn sich alle einig sind, dass vom Boden nur eine BUK geschossen haben kann, dann müssen wir klären, was genau eine BUK macht? Wozu ist diese Waffe gut? Wozu wurde sie entwickelt? Wozu wird sie gebraucht? Besonders in dieser Region? Diese Fragen haben uns sehr weit gebracht.
Was habt Ihr anders gemacht als andere Rechercheure?
Bensmann: Man muss sagen, dass das Internetportal Bellingcat hervorragende Vorarbeit geleistet hat. Bellingcat hat Bilder geordnet, die in sozialen Netzwerken in Russland kursierten. Darauf haben wir uns in unserer Arbeit auch gerne gestützt. Ich glaube es gibt zwei wesentliche Unterschiede. Einmal die Frage nach der Einordnung der Waffentechnik. Wenn alle sagen, es war ein BUK – dann muss man fragen: Welche Funktion erfüllt eine BUK im Ukraine-Konflikt? Wenn man das tut, versteht man irgendwann den Tathergang. Und dann haben wir noch etwas gemacht, was Journalisten seit Jahrzehnten machen: Wir haben vor Ort an Türen geklopft. Es ging nur darum, am richtigen Ort zu klopfen. Nicht da, wo das Flugzeug zu Boden fiel; sondern da, wo die Rakete zum Abschuss aufstieg.
Crawford: Viele Journalisten machen gerade letzteres heute nicht mehr. Viele Leute suchen nur im Internet nach Quellen oder rufen bei der Pressestelle an. Nur wenige arbeiten wie Rechercheure und suchen selber nach konkreten Spuren.
Bensmann: Das darf man aber nicht missverstehen. Natürlich ist auch Onlinerecherche wichtig. Die Arbeit von Bellingcat wurde auch deswegen von anderen Journalisten – auch von uns – übernommen. Aber wir haben auch gesagt: die Onlinearbeit alleine reicht nicht. Wir müssen vor Ort suchen. Wir sehen nach, ob das, was Bellingcat beschreibt, auch wirklich stimmt. Sind die Fotos wirklich dort entstanden, wo sie entstanden sein sollen? Kommen wir zum selben Ergebnis durch den Vor-Ort-Besuch? Und finden wir vor Ort weitere Hinweise? Insofern haben wir die Arbeit von Bellingcat ergänzt.
Wie habt ihr die Vor-Ort-Recherche konkret vorbereitet?
Crawford: Wir haben über jeden möglichen Standort der BUK alles gesammelt, was man finden kann. Aus unserem Büro heraus haben wir so viel wie möglich vorab geprüft. Zum Beispiel haben wir uns die Koordinaten der Standorte, die vom russischen Verteidigungsministerium bekannt gegeben worden sind, mit Google-Earth abgeglichen: Sehen wir das gleiche wie das russische Verteidigungsministerium?
Wie schwierig war der Zugang zum Krisengebiet?
Bensmann: Ein Besuch in einem Krisengebiet, in dem Warlords herrschen, ist immer eine riskante Geschichte. Gerade in den Separatistengebieten in der Ostukraine gab es viele Tötungen und Verhaftungen von Journalisten. Um in einem nahezu gesetzlosen Gebiet mit ganz normalen Leuten reden zu können, die in Angst und Schrecken vor Armee und Separatisten leben, mussten wir den besten Zeitpunkt abpassen, der ein nahezu unbeschränktes Reisen ermöglicht. Dieser Zeitpunkt waren die angeblich freien Wahlen. Da will man ja, dass internationale Journalisten reinkommen, damit diese bezeugen, dass alles geordnet abläuft. Dann ist die Vorbereitung wichtig. Vorher muss ich einen Mitarbeiter vor Ort finden, der vertrauenswürdig ist, und die Sicherheitsmaßnahmen checken. Wie kann man da telefonieren? Wie elektronisch kommunizieren? Wie kriege ich Informationen schnell hinaus, ohne mich bei einer Verhaftung als Spion verdächtig zu machen. Dann ganz praktische Frage. Wie komme ich in ein umkämpftes Gebiet? Mit hat geholfen, dass ich vorher schon in vielen Krisengebieten war und mit demselben Gepäck losziehen konnte. Ich musste mir nur zwei schusssichere Westen ausleihen – eine für mich und eine für meinen Fahrer. Meine eigene war noch in Kasachstan, die konnte ich nicht mehr so schnell ranschaffen.
Wie hast du dich konkret vor Ort bewegt?
Bensmann: Schutzweste und Helm waren wichtig. Durch die Wahlen konnten wir uns allerdings frei bewegen und sind mit dem Auto über die Dörfer gefahren. Geholfen hat mir ein Mitarbeiter in Donetzk, der mir wichtige Interviews organisiert hat. Ansonsten war ich mit meinem Fahrer alleine unterwegs.
Wie hast Du vor Ort kommuniziert?
Bensmann: Ich habe natürlich russisch gesprochen. Ansonsten ist es immer schwierig, mit einem Bewaffneten zu diskutieren. Das macht man nicht einfach so. Ich war sehr vorsichtig. Wichtig ist: reden lassen, Raum geben. Manche wollen reden, manche nicht. Technisch hatte ich alles dabei. Telefone, auch Diktiergeräte. Gerade die Diktiergeräte liefen immer. Auch, wenn ich irgendwo an Türen geklopft habe.
Besteht da nicht die Gefahr, als Spion zu gelten?
Bensmann: Das ist in der ehemaligen Sowjetunion immer so. Jeder Journalist gilt erstmal als Spion. Die sowjetischen Journalisten waren es damals ja auch meist. Die Idee einer freien und unabhängigen Presse ist bis heute in weiten Teilen der ehemaligen UdSSR nicht angekommen. Die meisten Leute dort haben keine Idee, was Journalisten überhaupt machen. Sie glauben, Journalisten werden immer von einem Geheimdienst gesteuert. Man wird immer als Geheimdienstler abgestempelt. Und dagegen zu argumentieren, ist immer schwierig. Wie bei dem Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“: Du bist kein Spion? Nur Spione sagen, dass sie keine Spione sind. Gerade deswegen bist Du ein Spion. Aus dieser Logik kommt man schlecht raus. Auch nicht, wenn man sagt, dass man an einer umfassenden Aufklärung interessiert ist, weil die Menschen in Europa wissen wollen, was wirklich in der Ostukraine passiert ist.
Mitglied werden
David Crawford, Senior Reporter bei CORRECT!V. Hier können Sie unseren Reporter per E-Mail kontaktieren.
Marcus Bensmann, Reporter bei CORRECT!V. Hier können Sie unseren Reporter per E-Mail kontaktieren.
Welche Gefahren und Bedrohungen gab es?
Bensmann: Es bestand die Gefahr, dass jemandem meine Frage nicht gefällt und er meinen Computer zerschmettert. Oder mich zerschmettert. Oder sagt, du kommst hier nicht in das Gebiet rein…
…oder nicht mehr heraus?
Bensmann: Raus kommt man langfristig schon. Wenn man verhaftet wird, kommt man wieder frei. Die größte Gefahr besteht darin, sein Arbeitsmaterial zu verlieren. Tonaufnahmen, die zerstört, Handy-Nummern, die gelöscht, Informanten, die enttarnt werden. Da geht es schnell um das Menschenleben von dritten Personen, die mir vertraut haben. Deswegen habe ich alle meine Recherche-Ergebnisse unmittelbar mit verschlüsselter E-Mail oder verschlüsselten Datenverbindungen in die Redaktion geschickt. Im Falle meiner Festnahme oder einer Beschlagnahme meiner Unterlagen und Technik war damit immer möglichst viel schon draußen und gesichert.
Was hast Du, David, in der Zeit in Deutschland gemacht? Wie konntest Du Marcus unterstützen?
Crawford: Ich habe versucht, die Angaben zu präzisieren, die er aus der Ukraine geschickt hat. Per E-Mail habe ich weitere Orte für die Recherche vorgeschlagen. Aber ich wollte ihn nicht durch zu engen Kontakt belasten, falls sein Telefon überwacht wird. Das, was Marcus geschafft hat, hat er schon alleine geleistet.
Bensmann: Wenn man vor Ort ist, ist man oft zu nah dran. David hat meine Fundstücke häufig kommentiert und eingeordnet. Zum Beispiel bei einem zerbombten Haus in Snizhne. Da habe ich dank David verstanden, dass das Haus nicht das Ziel war, sondern wahrscheinlich Panzer in der unmittelbaren Umgebung des Wohnhauses. Oder als ich im Dorf unterwegs war und mir eine Frau von einem Schlag erzählte, den sie gehört hat. Da hat David gesagt: „Das ist es“ – und das war gut so. Jeder Feldreporter braucht einen guten Backup-Mann in der Redaktion.
Welchen Eindruck haben die Menschen vor Ort auf Dich gemacht?
Bensmann: Ich habe selten so etwas gesehen. Der Donbas ist wie das Ruhrgebiet früher, überall stehen Fördertürme für Kohle. Die Leute gleichen auch von der Mentalität her den Menschen aus dem Ruhrpott. Direkt und herzlich, aber auch hart. In Donezk stehen ein riesiges Stadion und Shopping Malls, alles ist sehr modern. Man hat das Gefühl, über all das hat sich der Schatten des Krieges gelegt, in seiner schrecklichsten Form. Warlords haben die Kontrolle über ganze Städte und Dörfer übernommen. Und mit diesen neuen Machthabern müssen die Menschen dann umgehen, und zwar ohne Regeln, Gesetze und Gerichte. Diese Menschen sind zivile Opfer eines Krieges. Es fallen Bomben, Raketen fliegen durch die Luft, die Menschen wollen nur überleben. Ihre ökonomische Basis ist zerbrochen, die meisten sind arbeitslos. Sie wissen nicht, wie sie zu Brot und sauberem Wasser kommen. Und dann werden diese verängstigten Menschen permanent von abstruser russischer Propaganda beschallt, die ihnen weiß machen will, sie seien alle Opfer des Faschismus. Es heißt, eine faschistische Junta plane Gräueltaten, Vergewaltigungen und Verbrennungen. Das geht so weit, das berichtet wird, die ukrainische Armee habe einen kleinen Jungen gekreuzigt. Diese Propaganda versetzt die Menschen im Donbas in einen ständigen Ausnahmezustand. Diese Lage muss man kennen, wenn man mit diesen Menschen spricht. Sie werden von Angst getrieben.
Gab es besondere Momente?
Bensmann: Natürlich als ich mit den Zeugen gesprochen habe. Aber auch die Umgangsformen. Einmal sitze ich bei einem Kosakenfürst und muss zwei Stunden warten. Ständig kommen tschetschenische Kämpfer herein, die sich Butterbrote schmieren. Ich rede mit den Mitte-20-Jährigen und trinke mit ihnen Tee und wir unterhalten uns über Kriegserfahrungen. Das war sehr eindrücklich. Sie haben in Abchasien gekämpft, in Ossetien und jetzt halt in der Ostukraine. Seit sie als kleine Jungen den Krieg in ihrer Heimat erlebt haben, sind sie als Söldner unterwegs. Ich habe gemerkt, wie diese Leute in ihrer eigenen Propaganda gefangen sind. Ich war immer noch in Europa – und doch so weit weg von dem Leben in Deutschland.
Mit wie vielen Menschen habt Ihr für diese Recherche gesprochen?
Crawford: Mit sehr vielen Leuten, wobei einige wichtiger waren als andere. Es gab eine relativ kleine Zahl sehr wichtiger Leute. Und sehr viele, mit denen wir gesprochen haben, um die sehr wichtigen Leute zu finden. Bei den meisten haben wir gemerkt, dass sie nicht dazu beitragen können, die Geschichte aufzuklären.
Bensmann: Die Zahl unserer Gesprächspartner geht in den dreistelligen Bereich. In jedem Ort habe ich mit fünf, sechs Leuten gesprochen. Ich alleine komme schon auf mehr als Hundert Gesprächspartner. Wichtig ist ja eben, dass man hingeht und es sich anschaut. Es wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit der MH17-Geschichte ein Foto weltbekannt, auf dem eine BUK-Abschussrampe unter einem Plakat hindurchfährt. Mein erster Gedanke war: Ich gehe zu dem Unternehmen, das dieses Plakat aufgehängt hat und frage nach, wo dieses Plakat auf dem Foto hing. Also bin ich in Kiew hingegangen und habe die Autofirma, die das Plakat in Auftrag gegeben hat, gefragt: Könnt ihr mir die Standorte aller eurer Plakate nennen? Ich dachte, die Firma hat bestimmt tausende ähnlicher Anfragen bekommen. Aber die haben gesagt. „Du bist der erste, der uns fragt.“ Das Foto mit dem Plakat wurde weltweit gezeigt – und keiner fragt den Autohändler? Oder Bellingcat. Die Onlinerechercheure haben nachgewiesen, dass die BUK-Rakete auf den Fotos ziemlich sicher von einer Kursker Militärbasis stammt. Da muss man doch zu diesem Standort gehen und sich dort umschauen als Journalist.
Warum ist vorher niemand dorthin gegangen?
Crawford: Reisen in Krisengebiete sind teuer, jemand muss das bezahlen. Und man weiß nicht, ob man tatsächlich eine vernünftige Geschichte zusammenbekommt. Das Risiko ist sehr hoch. Auf gut Glück reisen und vagen Spuren nachlaufen – so etwas wollen oder können viele Redaktionen heute nicht mehr bezahlen. Sehr viele haben stattdessen auf die sichere Geschichte gesetzt: sie sind zum Absturzort gefahren und haben dort Fotos und Interviews gemacht. Hier konnte man sicher sein, mit einer Geschichte heim zu kommen. Und sei es nur eine Trümmertourismusstory. Wir hatten eine andere Strategie. Wir wollten nicht nur sehen, wo die Trümmer liegen, sondern die Leute finden, die am Abschussort der Rakete waren. Dort wollten wir Spuren suchen. Wer den Tatort kennt, findet die Täter. Bensmann: Wichtig waren aber nicht nur die Orte, die wir besucht haben, sondern auch die militärische Auswertung der Spuren. Nur so konnten wir die wichtigste Frage klären. Crawford: Wir wollten wissen: Warum wurde mit der BUK geschossen? Warum war die BUK in der Ostukraine? So haben wir gelernt: Die einzige Funktion der BUK ist es, Panzer zu schützen. Kein russischer Panzer fährt ohne den Schutz einer BUK in den Kampf. Dieses Kampfsystem ist hochmobil und tödlich für feindliche Flugzeuge. Auch in Bewegung können sie orten und Raketen abschießen. BUKs werden nicht benutzt, um Flughäfen, Fußballstadien oder Wohnsiedlungen zu schützen. Sie sind nur dazu da, vorrückende Panzer zu decken. Also mussten wir wissen: Gab es russische Panzer in der Ostukraine? Und wenn ja, wo? Marcus hat diese Orte gefunden.
Bensmann: Das war spannend. Aus der taktischen Bedeutung des Waffensystems BUK ergibt sich ein ganzer Rattenschwanz an Schlussfolgerungen.
Wie sah Euer Alltag während der vergangenen Monaten aus?
Bensmann: Wir haben uns ausschließlich mit der MH17 beschäftigt. Wir haben Theorien ausdiskutiert und Ergebnisse ausgewertet. Neue Erkenntnisse haben wir wieder besprochen und neu sortiert. Es war ein ständiges Abwägen und Prüfen.
Crawford: Wenn etwa das russische Verteidigungsministerium sagt „Hier standen zwei BUK Abschussrampen“, hat Marcus gesagt: Wir sollten mit Google Earth schauen, ob wir die sehen. Dann haben wir festgestellt, dass der Ort anders aussieht, als von den Russen beschrieben. Andere Orte, die die Russen erwähnt haben, hatten sich dagegen nicht verändert. Wen müssen wir jetzt anrufen? Wo bekommen wir Informationen zu genau diesen Standorten? Wir haben zusammengesessen und unsere Gedanken auf Papier gebracht, von frühmorgens bis spätabends. Wir haben unser Verständnis darüber vertieft, was wirklich passiert ist. Viele Thesen konnten wir widerlegen. Manchmal waren wir selbst überrascht – und mussten die Fakten akzeptieren. Wir haben ständig überlegt: Wie geht es weiter?
Die Reporter
Marcus, seit wann bist Du Journalist?
Bensmann: Seit 20 Jahren. Meine erste Geschichte habe ich für das Deutschlandradio über die Wahlen in Usbekistan 1994 zur Weihnachtszeit gemacht. Seitdem habe ich mich in Zentralasien getummelt, als freier Journalist für deutsche, schweizerische, manchmal auch für japanische Medien. Egal ob Irak, Iran, Afghanistan – ich habe viele Krisen gesehen. Mein Prinzip war immer: hingehen. Ich halte den journalistischen Augenschein für das Wichtigste.
Manche Menschen nennen dich Titangesicht. Was hat es damit auf sich?
Bensmann: Ich bin 2008 in Astana während eines harmlosen Drehs böse überfallen worden. Ich bin zusammengeschlagen und in der Kälte bei minus 20 Grad bewusstlos ausgesetzt worden. Die Kleidung hatte man mir abgenommen. Ich bin nach einigen Stunden aufgewacht und zum Glück gerettet worden. Mein Gesicht sah aus wie ein eingefallenes Zelt. Im Krankenhaus haben sie mir später Titanplatten eingesetzt. Die stecken bis heute in meinem Gesicht. Gott sei Dank mussten meine Finger nicht amputiert werden. Heute kann ich wieder normal arbeiten.
Gab es weitere Angriffe?
Bensmann: Einmal war es sehr knapp, im tadschikischen Bürgerkrieg. Japanische Geologen wurden als Geiseln genommen und ich wusste ungefähr, wo die zu finden sind. In den osttadschikischen Bergen wurde ich verfolgt von einem Jeep. Der war schneller als wir und hat uns ausgebremst. Mein Fahrer wurde mit der Kalaschnikov niedergestreckt und ich sollte vor den Angreifern niederknien. Ich habe dann alle Kommandanten genannt, die mir einfielen, wollte aber nicht knien. Die ließen uns dann fahren. Danach habe ich angefangen zu rauchen. Dann das Massaker von Andischan. Als 2005 die usbekischen Truppen das Feuer auf Demonstranten eröffneten und hunderte Menschen erschossen. Ich war vor Ort, mit meiner Frau. Eine Kugel durchschlug ihren Rucksack. Ich lag im Kanal und habe Interviews gemacht. Später habe ich einen Mitarbeiter aus dem Knast geholt und außer Landes geschmuggelt.
Und trotzdem machst Du weiter?
Bensmann: Ich dachte, ich kann mich im Grunde überall rein- und wieder rausreden. Allerdings bin ich nach dem Überfall 2008 vorsichtiger geworden. Ich habe das Gefühl der Unantastbarkeit verloren. Seither denke ich über Risiken besser nach und baue mehr Sicherheitsmaßnahmen auf.
Was waren deine wichtigsten Recherchen?
Bensmann: Sicher die Berichte zum Massaker von Andischan, als ich mit meiner Frau zu den wenigen Journalisten gehörte, die vor Ort waren. Dann die Berichte über die Revolution in Kirgistan oder die ethnischen Unruhen von Osch. Aber auch meine Berichte über den Streik der Erdölarbeiter in Kasachstan, der mehr als ein halbes Jahr in den westlichen Medien keine Beachtung fand, waren mir sehr wichtig. 2003 war ich im Irak und konnte als einer der ersten die Aufständischen gegen die USA interviewen. Später habe ich zu den Anfängen der sogenannten Islamischen Jihad Union recherchiert, einer islamistischen Terrorgruppe, die später in Afghanistan für Aufsehen sorgte. 2004 trat sie mit Selbstmordanschlägen in Taschkent in Erscheinung. Ich habe die Familie der Täterin gefunden. Später wurde die Gruppe auch in Deutschland bekannt, als 2007 die so genannte Sauerlandgruppe deutscher Konvertiten verhaftet wurde. Die Bundesanwaltschaft reiste dann sogar in den Folterstaat Usbekistan, um dort einen Inhaftierten zu vernehmen. Ich habe die Familie dieses Mannes gefunden und konnte seine Hintergründe und Reisen rekonstruieren. Immer ziehe ich über die Dörfer und klopfe an Türen. Ich habe gemerkt: Ich komme in Regionen, die für Journalisten eigentlich verschlossen sind. Ein Beispiel, wie das geht: Ich stand einmal an der türkisch-iranischen Grenze und die Iraner ließen keine Journalisten rein. Ich kannte aber jemanden in Teheran. Der hat mein Visum geändert und so durfte ich nach Kurdistan. Von dort habe ich dann über den Irakkrieg berichtet.
Du warst auch in Afghanistan. Was hast Du da recherchiert?
Bensmann: Ich habe zunächst viel über Tadschikistan berichtet, über den Bürgerkrieg dort. Die tadschikische Opposition war im Norden Afghanistans stationiert und dort war ich im Sommer 1995. Von Nordafghanistan aus bin ich sehr viel gereist. Teilweise bin ich auf Pferden über die Pässe der Berge geritten und habe die Kommandeure und Warlords in ihren Palästen und Unterschlüpfen besucht. Auch die Taliban in Kabul habe ich mir angeschaut. Als dann 2001 Afghanistan in aller Munde war, saß ich im Helikopter nach Kabul. Lange Zeit war es übrigens so, dass man als Journalist dort recherchieren konnte und von den kriegsführenden Parteien angenommen wurde. Man war zwar als Beobachter gefährdet, konnte sich aber frei bewegen. Ich war 2006 bei der Bundeswehr in Kunduz und habe den Oberbefehlshaber gefragt, was die wichtigste Aufgabe dort ist. Er sagte: Die Sicherheit seiner Leute zu garantieren. Da habe ich gefragt, ob er das nicht besser in der Lüneburger Heide tun könne.
David, Du recherchierst seit Jahrzehnten schwierige Geschichten, die kaum einer lösen kann. Wann hat das angefangen?
Crawford: 1982. Es ging um die Situation von Asylbewerbern in Berlin. Die habe ich mir angeschaut und in der taz darüber berichtet.
Du hast gleich nach der Wende zehntausende Seiten Stasi-Unterlagen recherchiert und veröffentlicht. Wie lief das?
Crawford: Ich habe für eine Fachzeitschrift gearbeitet – es ging um Geheimdienste, Sicherheitsfragen, Polizei und Datenschutz. Da war ich Deutschland-Korrespondent und habe in jeder Ausgabe zwischen zwei und zehn Artikeln gebracht. Mit der taz hatte ich die Stasi-Objektliste veröffentlicht. Das war eine Sonderausgabe mit allen Standorten der Stasi in der DDR. Wir haben beschrieben, welche Diensteinheiten der Stasi da was gemacht haben. Einige Monate später habe ich ein Datenprojekt über Stasi-Mitarbeiter geleitet. Ich hatte die Idee, eine Art Lexikon der Stasi-Mitarbeiter und ihrer Tätigkeiten zu erstellen. Wir haben versucht, mit zur Verfügung stehenden Daten die Geschichte der DDR aufzuarbeiten. Und irgendwann hatte ich eben alle Daten der Stasi-Mitarbeiter. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der man nicht wusste, was die Eltern in der NS-Zeit gemacht haben. In solch verschwiegenen Zeiten wollte ich nicht mehr leben. Außerdem gab es im Westen nach der Wende eine Art Generalverdacht gegen jeden Ostdeutschen – da wollte ich Klarheit reinbringen. Wer war bei der Stasi und wer nicht.
Dann hat Dich das Wall Street Journal für die Berichterstattung über 9/11 eingekauft. Was hast Du da berichtet?
Crawford: Das journalistische Problem am so genannten 11. September, den Terroranschlägen von Al Quiada auf das World Trade Centre in New York, war, dass Informationen zum Großteil unter der Kontrolle von Sicherheitsbehörden standen. Die Behörden hatten kein Interesse, diese Informationen mit der Weltöffentlichkeit zu teilen. Aber es gab auch in Deutschland ein Ermittlungsverfahren wegen angeblich beteiligter Personen aus Deutschland. Und ich wusste, in Deutschland haben Nebenkläger einen Anspruch auf Informationen. Ich musste also einen Nebenkläger finden, der für mich die Informationen bei den deutschen Ermittlungsbehörden abfragt. Also habe ich zwei Artikel über die Rechte von Nebenklägern im Wall Street Journal geschrieben. So fand ich Leute, die sich von zwei Anwälte vertreten ließen. Als die Anwälte die Akten bekommen hatten, durfte ich in diese Akten schauen. Ich dachte mir gleichzeitig: Die Anwälte werden nie zulassen, dass ich das ganze nächste Jahr in ihrem Büro hocke und 40.000 Seiten Akten lese. Also habe ich zwei schnelle Kopierer, zwei Nachrichtenassistenten, zwei Paletten Papier und eine Palette Toner mit einem Gabelstapler durch das Fenster in das Büro geschafft. In fünf Tagen hatten wir alle Akten kopiert. Jeden Abend ist ein Lieferwagen mit neuem Papier in das Büro gefahren. Der Anwalt war nervös. Aber wir hatten nach dieser Aktion alle verfügbaren Akten zu Al Quiada.
Was war das Ergebnis?
Crawford: Wir haben alle Unterlagen digitalisiert. Viele Leute machen ja Datenjournalismus mit Sachen aus dem Internet. Aber eigentlich sind die wirklich wichtigen Informationen auf Papier, das man erst einmal digitalisieren muss. Geheime Sachen wird niemand freiwillig ins Internet stellen. Wir hatten beim Wall Street Journal eine Software, mit der wir die Akten durchsuchen konnten. Mit den Al Quiada Akten habe ich sehr lange gearbeitet, bis vor ein paar Jahren noch. Als immer wieder Leute in Pakistan mit Drohnen abgeschossen wurden, hatte ich von einem Opfer die Arbeitsunterlagen in den Akten. Der Mann hatte bei VW gearbeitet und wir konnten seinen Werdegang über diese Papiere und zusätzliche Zeugen verifizieren. Anhand der Akten konnten wir hunderte Geschichten erzählen. Auch als Collin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat 2003 seine Gründe für den US-Einmarsch in den Irak darlegte, haben diese Akten geholfen. Ich saß im Berliner Büro vom Wall Street Journal, habe seine Rede gehört und gesagt: Das stimmt nicht, wir haben BND-Unterlagen in den Akten, die etwas anderes sagen.
Du hast als bisher einziger Journalist Wladimir Putin Korruption nachweisen können. Wie lief das?
Crawford: Ich habe zunächst Putins Aktivitäten in Deutschland in den 80er Jahren recherchiert. Bekannt war, dass er für den KGB gearbeitet hatte. Ich habe dann die Mitglieder seines KGB-Netzes gefunden und befragt. So konnte ich feststellen, dass er zu seiner Dresdener Dienstzeit Kontakt zu einem Stasi-Offizier hatte, der ihm Agenten der Stasi übergeben sollte. Putin war so naiv, Leute anzuwerben, die längst aufgeflogen waren. Ich habe über meine Quellen erfahren, dass einige von Putins Kontakten später große Namen wuden – einer wurde zum Beispiel Chef der Dresdner Bank in Russland. Ich konnte dann enthüllen, dass Putins Frau von der Dresdner Bank bezahlt wurde und sich mit einem Fahrzeug der Dresdner Bank in Russland bewegt hat. Und dass auch Putin selbst geldwerte Vorteile von der Dresdner Bank bekommen hat..
Du hast auch viel zu Siemens veröffentlicht.
Crawford: Siemens war interessant, weil es ein großer Kriminalfall war. Diese Causa habe ich mehr als zehn Jahre verfolgt, konnte aber wenig schreiben, weil die Beweise fehlten. Auf einmal war dann viel Polizei unterwegs, weil aus Lichtenstein und der Schweiz viele Informationen kamen. Das habe ich beobachtet, versucht Zeugen zu befragen und Akten zu sammeln. Ich bin dann ein Jahr lang Siemens hinterhergelaufen. Und konnte unter anderem Teile der Siemens-Bestechungslisten veröffentlichen.
Flug MH17 – Auf der Suche nach der Wahrheit
Der Zeuge
Fakten vs. Propaganda
Wie hat sich der Informationskrieg zwischen Russland und dem Westen in den vergangenen Jahrzehnten Eurer Ansicht nach verändert?
Bensmann: Wir sind jetzt in einer Phase, in der Putin massiv versucht, mit moderner Technologie und mit traditionellen Methoden Propaganda-Punkte zu machen. Seine Adlaten im Staatsapparat und in den Medien wollen zunächst die eigene Bevölkerung überzeugen, dass die Putin-Regierung das Richtige tut. Dann wollen sie die Ukraine verunsichern, der Staat in dessen Osten sie gerade intervenieren. Und im dritten Schritt wollen Putins Leute die antiamerikanische Stimmung in Deutschland und Europa schüren und ausnutzen, um Unterstützung für ihre Sache zu finden. Die Propaganda soll Putins Herrschaft zementieren.
Crawford: Ich glaube, es hat sich nicht viel geändert. Wenn Du die Stasi-Akten nimmst zum Beispiel, siehst Du, dass es schon damals im kalten Krieg die gleichen Desinformations-Strategien der Ostgeheimdienste gab. Als es damals um Warschauer Pakt und NATO ging, haben Journalisten von der Stasi wichtige Papiere zugeschanzt bekommen. Einige von uns haben sich gefragt, warum wir das Material bekommen. Später stellte sich heraus, dass Teile dieser Papiere aus politischen Gründen geändert worden waren. Die Falschinformationen wurden zwischen vielen richtigen Informationen versteckt. In der Auseinandersetzung in der Ukraine – auch bei MH17 – wird dieselbe Strategie genutzt. Einmal KGB, immer KGB.
Bensmann: Ich glaube, im Umgang mit der russischen Propaganda muss man das Buch „1984“ von George Orwell gelesen haben. Es geht um die Umkehrung von Wahrheiten. Das ist das Prinzip. Neu ist die Methode: über Russia Today, über das Internet, über schlechte Blogger, über gekaufte Reporter und bezahlte Internet-Trolle werden zehn Versionen einer Geschichte gestreut und so die Wahrheit entwertet. Denn diese wird durch die manipulierten Versionen als scheinbar umstritten dargestellt. Es gibt wenige Journalisten, die sich offensiv dagegen wehren.
Was entgegnet Ihr Menschen, die Euch als einseitig bezeichnen, als anti-russisch?
Bensmann: Ich berichte nicht einseitig und ich bin nicht voreingenommen. Ich habe lange in Russland gelebt und gearbeitet. Ich bin nicht anti-russisch, auch wenn ich die Herrschaftsstruktur Putins kritisiere. Putin und Russland sind nicht dasselbe. Ich gehe in die Region und spreche mit Zeugen und überprüfe Tatorte. Ich kann da nichts antirussisches erkennen. Das ist Journalismus.
Wie findet man auf diesem Gebiet Fakten zwischen all der Propaganda?
Crawford: Alles überprüfen.
Bensmann: Hingehen, prüfen, systematisieren. Ich war vor Ort und habe angeklopft. Da ist nichts erfunden. Wir haben keine einzige Information benutzt, die uns ein Geheimdienst, eine Polizeibehörde oder sonst wer zugespielt hat. Wir waren selbst vor Ort und haben alles mit eigenen Augen gesehen.
Wie genau können sich Zeugen an diesen einen Tag erinnern?
Bensmann: Zeugenaussagen sind immer ein Problem. Gerade bei Katastrophen werden Erinnerungen überdeckt.
Crawford: Zeugen erinnern sich häufig nur an kleine Ausschnitte und Nebenereignisse. Zeugen haben selten den Überblick. Sie haben Blitze gesehen und Donner gehört. Sie haben Tiere flüchten sehen. Sie sehen, was sich eingeprägt hat, weil es sie emotional berührt hat.
Bensmann: Trotzdem sind Zeugen wichtig. Die Frage ist ihre Glaubwürdigkeit. Dazu muss man viele Nebenfakten berücksichtigen: Wie kommt es zum Gespräch? Wie artikuliert sich der Zeuge? Wir haben das große Glück, alle Gespräche aufgenommen zu haben. Damit können wir genau diese Nebenfakten nachvollziehen. Wir haben unsere Gesprächspartner selbst und zufällig ausgesucht, sie wurden uns nicht von irgendwem zugeführt. Die Zeugen entwickeln ihre Gedanken selbstständig, sie beschreiben ihre Beobachtungen und versuchen, sich zu erinnern. Das ist glaubwürdig. Wir haben dann bestimmte Fakten immer wieder erzählt bekommen. Den harten ersten Schlag, den Rauch, der aufstieg, und den langen, zischenden Ton. Die Aussagen der Zeugen ergänzen sich. Wir haben einen Zeugen, der alles sehr genau beschrieben hat. Und etliche Zeugen, die seine Aussage untermauern. Die Organisation russischer Ingenieure sagt zudem, es spreche alles für eine BUK-Rakete, die für den Abschuss verantwortlich sei – aber es gebe keine Zeugen. Solche Zeugen müssten eine klare Geräuschkulisse gehört haben. Einen Schlag, und dann einen langen zischenden Ton. Diese Zeugen, die die Organisation russischer Ingenieure vermisst, diese Zeugen haben wir in der Ostukraine, in einem Vorort der Stadt Snizhne, gefunden. Das ist eine klassische Spurensuche und kein Set-Up. Im Zusammenhang sind diese Aussagen der Zeugen nachvollziehbar und logisch.
Crawford: Auch die Ängste der Menschen vor Ort sind zu berücksichtigen. Wir haben eine Aufnahme, auf der ein Zeuge beginnt zu erzählen und dann stößt ihn seine Frau ihn in die Seite und das Gespräch ist beendet. Selbst die Frage, ob Marcus ein Spion ist, untermauert die Authentizität.
Bensmann: Leider können wir die Originalstimmen auf den Tonbändern nicht veröffentlichen. Die Menschen, die mit uns geredet haben sind Kronzeugen. Sie sind wichtig. Und dementsprechend gefährdet in einem Kriegsgebiet. Sie können sofort verhaftet, deportiert oder erschossen werden. So etwas geschieht im Separatistengebiet der Ostukraine. Wir haben nicht die Macht, die Zeugen zu schützen. Wir können ihnen keine neue Identität, kein neues Leben bieten. Das können nur staatliche Ermittler. Wir können nur ihre Stimmen und Namen verändern und so versuchen, sie zu schützen. Aus diesem Grund haben wir auch die Aussage des wichtigsten Zeugen in Form einer grafischen Reportage nacherzählt.
Mit welchen Experten habt Ihr im Hintergrund gesprochen?
Crawford: Mit allen, die bereit waren, mit uns zu sprechen. In diesem Bereich ist das Problem mit den Experten, dass die zum großen Teilen beim Militär beschäftigt sind. Über Vermittler haben wir versucht, mit Experten in Kontakt zu kommen. Das war an sich schon eine Art Puzzlespiel, Leute zu finden und Vertrauen aufzubauen. Wir haben auch versucht, offizielle Gespräche über die Bundeswehr zu bekommen. Die politische Führung der Bundeswehr war dazu nicht bereit. Sie hat Gespräche mit Experten in ihren Reihen abgeblockt. Wir sind aber sicher, dass die Bundeswehr über das gleiche Wissen verfügt, das auch wir haben.
Warum hat die politische Führung abgeblockt?
Crawford: Das wissen wir nicht. Die Pressesprecher waren bereit, uns Gespräche mit Militärexperten zu vermitteln; das Ministerium wollte das aber nicht.
Warum können Experten im Text nicht mit Namen genannt werden?
Crawford: Weil die Experten keine Genehmigung zum Reden haben oder sich gefährdet fühlen. Wir mussten auch mit vielen Leuten im Ausland reden. Da ist es manchmal einfacher, an genaue Informationen zu bekommen, als im Inland. In Deutschland ist es immer schwierig.
Wie lange und häufig habt Ihr Text und Recherche überprüft?
Bensmann: Tausendfach.
Crawford: Im Grunde ist es ein endloser Prozess. Wir lesen unsere Recherchergebnisse etliche Male durch und markieren immer wieder neue Sachen. Dann rufen wir an und fragen noch einmal nach. Wir prüfen auch, ob die Aussagen vom Beginn der Recherche am Ende der Recherche noch stimmen.
Nach all den Monaten Recherche: Wie bewertet Ihr die Aufklärungsarbeit der offiziellen Organisationen, von OSZE und niederländischer Staatsanwaltschaft?
Crawford: Die OSZE hat keine Aufklärungsaufgabe, sie unterstützt die Ermittler der internationalen Luftfahrt-Sicherheitsbehörden, zum Beispiel die Niederländer. Die haben einen Ermittlungsauftrag und arbeiten mit anderen Ländern und Behörden zusammen. Bisher haben die aber nur einen Ist-Stand von bestätigten Fakten hergestellt. Das ist sehr wenig, aber dadurch haben sie Glaubwürdigkeit hergestellt. Sie haben nicht spekuliert, sondern suchen nach zusätzlichen Informationen und Daten. Das ist eine mühsame, langwierige Arbeit. Das kann innerhalb eines Jahres geschehen oder mehrere Jahre dauern.
Wer ist Eurer Meinung nach für den Abschuss von MH17 verantwortlich?
Bensmann: Für den Abschuss selbst ist alleine die russische Regierung von Wladimir Putin verantwortlich. Sie hat die Ostukraine destabilisiert und die Truppen und die Technik bereitgestellt, um MH17 abzuschießen. Und da spielt es auch keine Rolle, ob der Abschuss gezielt war oder aus Panik versehentlich erfolgte. Eine Mitverantwortung trägt aber auch die ukrainische Regierung, die für ihre Luftangriffe auf russische Panzer die Passagiere der zivilen Luftfahrt über der Ostukraine als menschliche Schutzschilder mißbraucht hat. Ihre Jagdbomber haben sich unter den Urlaubsjets versteckt und damit hunderte unschuldige Menschen in Lebensgefahr gebracht. Die Ukraine ist im Krieg, sie stand und steht vor dem Staatszerfall. Es ist mir unbegreiflich, wie man das Leben von tausenden Passagieren der ukrainischen Luftfahrtbehörde anvertrauen kann. Diese Behörde konnte nur agieren, wie eine Behörde in einem krisengeschüttelten Staat nun mal agiert: falsch. Und hier tragen dann aber auch die Regierungen der EU eine Mitverantwortung. Sie scheuten sich, den Krieg in der Ostukraine einen Krieg zu nennen und die daraus folgenden Konsequenzen zu ziehen. Deswegen haben sie den westlichen Fluggesellschaften nicht verboten, über der Ostukraine zu fliegen. Dieses Verbot hätte in ihren Augen wie eine Eskalation und Provokation der Putin-Regierung ausgesehen. Die EU hätte mit dem Flugverbot bekennen müssen, dass russische Panzer und Luftkampfeinheiten in der Ostukraine agieren. Dieses Bekenntnis wollten die Appeasement-Politiker vermeiden. Sie wollten nicht von einem Einmarsch der Russen sprechen. Zuletzt sind auch die Airlines verantwortlich, die entweder aus politischen oder aus wirtschaftlichen Gründen nicht sehen wollten, was offensichtlich war. Dass sie ihre Passagiere beim Überfliegen der Ostukraine in Lebensgefahr bringen. Sie alle tragen Mitschuld. Für alle Airlines und Regierungen in Europa und den USA gilt diese Erkenntnis spätestens ab Juni. Als das US-Aussenministerium von russischen Panzern in Snizhne sprach, hätten sie alle auf die Stopptaste drücken und Zivilflüge über der Ostukraine unterbinden müssen. Das ist der eigentliche Skandal.
Crawford: Von der internationalen Gemeinschaft wird immer noch eine eindeutige Schuldzuweisung gemieden. Die beteiligten Parteien sind zu wichtig. Russland ist Teil der internationalen Diplomatie und hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Und die Ukraine will in die EU. Das sind Partner, die man nicht mit Schuldzuweisungen belasten will. Außerdem wollen sich die europäischen Regierungen nicht selbst belasten.
Bensmann: Wenn die russische Regierung alleine als verantwortlich da steht, sind alle froh, glaube ich. Sie müssen sich dann ihrer Verantwortung nicht stellen.
Sie haben Infos für uns?
Der Weg der BUK
Mitglied werden
Steal our Story
Bedienen Sie sich! CORRECT!V ist gemeinnützig. Wir wollen mit unseren Recherchen Missstände aufdecken. Damit sich etwas ändert, müssen möglichst viele Menschen von diesen Recherchen erfahren. Deshalb freuen wir uns, wenn Sie unsere Geschichten ab dem 10.1. nutzen, mitnehmen, weiterverbreiten – kostenlos. Egal ob lokales Blog, Online-Medium, Zeitung oder Radio. Es gibt nur zwei Bedingungen: Sie verwenden die Geschichte erst ab dem 10.1. und geben uns kurz Bescheid an info@correctiv.org. Dann wissen wir, wo unsere Geschichten erschienen sind. Das ist wichtig für uns und unsere Unterstützer. Hier finden Sie die Nachricht und die gekürzte Version der Geschichte. Beachten Sie bitte auch die Angaben, welche Bilder frei verwendet werden dürfen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit per E-Mail an uns wenden. Dankeschön!