Lesezeit: circa 15 Minuten
Während ihrer Recherche haben unsere Reporter Marcus Bensmann und David Crawford mit vielen Personen gesprochen. Wir dokumentieren hier ausführlich drei Gespräche. Zunächst Dorfbewohner, der den Abschuss von Flug MH17 beobachtet hat, dazu zwei Interview mit den Separatisten Alexander Bondarenko und Alexander Chodakovskij
Der Zeuge am Abschussort
Erstmals bestätigen Zeugen im Gespräch mit uns glaubwürdig, dass die malayische Passagiermaschine über der Ostukraine von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Das Flugzeug stürzte am 17. Juli 2014 zu Boden. Keiner der 298 Insassen überlebte.
„Die Rakete haben sie von dort abgeschossen“, sagt ein Bewohner eines Vorortes der ukrainischen Stadt Snizhne mitten im Separatistengebiet. Dabei weist er auf ein benachbartes Feld. „Wir haben gesehen, wie sie geflogen ist“. Kurz danach sah er das malayische Passagierflugzeug einige Kilometer entfernt zu Boden stürzen. Nachbarn bestätigen das Geschehen. Sie berichten von “brennenden Bahnschwellen”, die sie unmittelbar nach einer ersten Explosion, einem langen Rauschen und einer zweiten Explosion über einem Wäldchen gesehen hätten.
Wir veröffentlichen hier unsere Tonbandaufnahme.
Zum Schutz des Zeugens vor Racheakten haben wir die Stimme von einem Schauspieler übersprechen lassen und Kürzungen vorgenommen.
Sie haben Infos für uns?
Die Audio-Aufnahme auf Deutsch übersetzt:
Journalist: Guten Tag. Ich bin Marcus Bensmann, ein deutscher Journalist. Ich gehe über die Dörfer und schaue, wie die Menschen so leben.
Bewohner: Aber vielleicht sind sie ein Spion?
Journalist: Ne, ich bin kein Spion. Ich bin Journalist.
Bewohner: Ja dann zeigen sie mal.
Journalist: Hier ist meine Akkreditierung. Mein deutscher Presseausweis.
Journalist: Sie wohnen hier?
Bewohner: Ja, ich wohne hier.
Journalist: Ich habe da noch eine Frage. Sie erinnern sich an den 17. Juli, als sie das Flugzeug abgeschossen haben, MH17, erinnern sie sich?
Bewohner: Aber wissen sie, ich sage ihnen dazu nicht alles, das könnte schlecht für mich enden.
Journalist: Das heißt, sie wollen darüber nicht sprechen?
Bewohner: Nein, ich habe Angst.
Journalist: Aber warum?
Bewohner: Ich weiss doch nicht, was sie im Schilde führen, in diesen wahnsinnigen Zeiten.
Journalist: Nur, Sie müssen verstehen. Die Menschen dort fragen das. Sie beschäftigt diese Frage.
Bewohner: Wo?
Journalist: In Deutschland.
Bewohner: Aber was wollen sie wissen? Sie haben es mit einer Rakete abgeschossen. Die Rakete haben sie von dort abgeschossen. Wir haben sie gesehen, wie sie geflogen ist. Verstehen sie? Was wollen sie noch wissen?
Journalist: Sie haben es gesehen?
Bewohner: Ich war im Hof und habe eine Explosion gehört, einen Schlag. Da war so ein „Chlop“ (russisch für Schlag). Und dieser Schlag war dort drüben, das war hier sehr gut zu hören. Und dann gab es eine sehr starke Explosion. Meine Ziegel haben gewackelt. Und gerade als ich auf die Straße gelaufen bin stürzte das Flugzeug ab, entlang der Straße einige Kilometer entfernt von hier. Verstehen Sie? Und man konnte sehen, wie es dort brannte. Ich bin auf die Strasse gerannt und sehe, da kam ein sehr grosse Schlag von dort und schwarzer Rauch. Kurz gesagt, ich bin in diesem Moment rausgelaufen, als es abstürzte. Ich habe es nicht gesehen, als es flog, das habe ich alles gehört. Und es hat dann dort gebrannt.
Journalist: Das Flugzeug haben sie gesehen?
Bewohner: Nein, das Flugzeug habe ich nicht gesehen. Als ich nach dieser Explosion rausgelaufen bin, habe ich gehört, dass sich eine große Explosion dort ereignet hatte.
Journalist: Ja.
Bewohner: Ich war im Hof unter der Plane, höre eine Explosion: „Bach Bach“. Die Ziegel auf dem Dach wackelten und es gab so einen langen Ton. Ich bin sofort auf die Strasse gelaufen und sehe, wie es dann entlang dieser Strasse zur Erde stürzt. Es ereignete sich, dass es genau entlang dieser Strasse passierte.
Journalist: Sie haben also von hier geschossen?
Bewohner: Von dort ungefähr. Ich habe einen Schlag gehört. Ich habe unter dem Verschlag ein „Chlop“ (russisch für Schlag) gehört. Ein „Chlop“, so ein Schlag eben. Da ist sie von dort offensichtlich losgeflogen. Aber dann eine starke Explosion. Den habe ich dann von hier aus gehört. Im Himmel war eine starke Explosion. Ich bin dann zwischen Garage und Strasse rausgerannt. Habe geschaut. Aber habe nichts gesehen. Aber als ich dann gelaufen bin, da habe ich gesehen, wie es auf die Erde gestürzt ist.
Journalist: Haben Sie Fahrzeuge gesehen dort?
Bewohner: Wo?
Journalist: Nun, wer dort geschossen hat, also die Raketen.
Bewohner: Nun, die Fahrzeuge habe ich nicht gesehen. Aber ein Freund hat diese Fahrzeuge gesehen. Er hat mich angerufen und gesagt: Dort steht so ein „krasses Teil“ mit vier Raketen. Sie haben in der Stadt gestanden.
Journalist: Vier Raketen?
Bewohner: Ja, vier Raketen waren da.
Journalist: Waren das russische Soldaten oder Separatisten?
Bewohner: (lacht) Nun, welcher Bergmann wird mit einer Rakete schiessen? Das waren Spezialisten. Kann ich etwa Raketen abschiessen?
Journalist: Also das war von hier?
Bewohner: Ich weiss nur nicht, warum sie sie hierhin gekarrt haben.
Journalist: Sie sind von hier.
Bewohner: Ja, ich bin von hier.
Journalist: Und das von hier geschossen wurde, dass hier Raketen gestanden haben, haben auch alle gesehen?
Bewohner: Nun, was heisst schon alle? Zu dieser Zeit sind wir nicht viel rumgefahren. Ich kenne einen, der das alles gesehen hat. Nur wird der nicht mit Ihnen reden. Er hat alles gesehen. Er hat als erster die Raketen gesehen. Er ist als erster hingefahren, nachdem das Flugzeug abgestürzt ist. Er ist hingefahren und hat geguckt. Er hat es mir erzählt.
Journalist: Nur, er wird nicht mir mir reden?
Bewohner: Kaum. Er hat auch Angst. Man weiss ja nicht, wo Du hingehst. Es sind gefährliche Zeiten. Wir haben hier keine Demokratie.
Alexander Bondarenko – Separatisten-Chef aus Snizhne
Am 2. November 2014 trifft sich unser Reporter Marcus Bensmann mit Alexander Bondarenko. Er ist einer der Chefs der prorussischen Separatisten in Snizhne. Hier dokumentieren wir ungeschnitten die Videoaufnahmen von diesem Gespräch in einem Restaurant.
Die interessantesten Aussagen aus dem Video haben wir auf Deutsch übersetzt. Die Zeitangaben beziehen sich auf die entsprechenden Stellen im Video.
00:04 – 00:40
Bondarenko: Bei uns hat man mit Sicherheit so etwas nicht gesehen. Ich sage dies, weil eine solche Technik äußerst spezifisch ist. Und wenn diese durch unsere Stadt gefahren wäre, hätten die Leute darüber geredet. Sie ist dort oder dort gefahren. Zum Beispiel Grad ist hier vorbeigefahren, oder Panzer, oder Panzerwagen, und so weiter. Nur, wenn hier eine BUK vorbeigekommen wäre, dann wäre hier ein Gerede gewesen. Oi, oi, oi.
00:40 – 01:08
Bondarenko: Stimmt doch. Wenn irgendetwas außergewöhnliches entlangfährt, zieht das Aufmerksamkeit auf sich. Dann beginnt das Gerede. Aber in der Stadt war nicht so ein Gespräch. Bei der Grad, bei den Panzern, natürlich.
Journalist: Aber woher kamen diese Panzer eigentlich?
Bondarenko: Aus dem Bezirk Luhansk sind sie gekommen. Denn, wir haben dorthin eine Straße. Ein Asphalt führt dorthin.
Journalist: Aber wann sind sie gekommen?
Bondarenko: Das war schon etwas länger her.
ab 01:08
Journalist: Nur, wem gehörten die Panzer?
Bondarenko: Nun das stand ja nicht drauf. Sie waren grün (lacht). Im Zweifel waren es unsere.
Separatistenkommandant Alexander Chodakovskij
Am 31. Oktober 2014 treffen wir den mächtigen Separatistenkommandanten Alexander Chodakovskij. Das Gespräch dauert über eine Stunde. Wir veröffentlichen zwei Videos aus dem Gespräch und übersetzen daraus die wichtigsten Passagen auf Deutsch. Zusätzlich binden wir die Tonaufnahme mit dem kompletten Interview ein.
4:12 – 4:50
Chodakovskij: Sehr langsam. Mit größter Mühe haben wir Militärspezialisten gesucht, die irgendwann mal gedient, dann in Pension gegangen sind. Oft haben Männer am Krieg teilgenommen, die im besten Fall ein Gewehr halten konnten oder aus einen einfachen Minenwerfer schießen konnten. Zielen, eine Mine nachladen und schießen. Wir haben keine Spezialisten, die mit einer schwierigen und hochpräzisen Technik arbeiten könnten.
05:45 – 06:01
Chodakovskij: Und als die Tragödie mit der Boeing passierte, war der Zustand unserer Freischärler-Kräfte nicht zufriedenstellend. Wir hatten kaum Leute, die mit einer einfachen Kanone umgehen konnten.
06:56 – 07:44
Chodakovskij: Ich würde die Tragödie nicht gerne als Militärfachmann beurteilen, sondern als einfacher Mensch. Der in der Stalin-Zeit repressierte Poet Gumiljew hat in einem Gedicht, dass er den Junkern, Offizieren gewidmet hat, die im ersten Weltkrieg umkamen, geschrieben: “Und keiner dachte, einfach auf die Knie zu gehen und diesen Jungen zu sagen, dass in diesem hoffnungslosen Land selbst Heldentaten nur ein weiterer Schritt in die unendliche Hölle sind und zum nie erreichbaren Frühling.” Hier muss man einfach nur auf die Knie gehen vor der Situation.
ab 08:37
Chodakovskij: Wenn ein Mensch eine Untat begeht, eine schlechte Tat, können wir ihn nicht allein für die Tat verurteilen, denn der Mann könnte ja Fehler machen.
ab 08:47
Chodakovskij: Wie häufig verurteilen wir ihn wegen seiner Beziehung zur Tat? Wir fragen: Was sagt Dir Dein Gewissen? Was fühlst Du? Fühlst Du Schuld? Hast Du ein Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben? Für uns ist die Beziehung zur Tat wichtiger als die Tat selber.
ab 09:03
Chodakovskij: Das ist immer gut. Der Mensch ist nicht ideal. Er kann immer eine schlechte Tat verüben. Aber wichtig ist, wie er sie dann beurteilt.
ab 09:20
Chodakovskij: Ein Mensch kann die Nerven verlieren, im Zorn einen anderen schlagen. Nur, wenn er sich danach beruhigt hat, kann man ihn fragen, hast du richtig gehandelt?. Einer sagt: Ja. Der andere: Nein, ich bereue.
ab 00:04
Chodakovskij: Russland beschuldigt die Ukraine, sie habe die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass diese Boeing abgestürzt ist. Das heißt, die Ukraine habe gewollt, dass diese ganze Schmach, diese Schande auf Russland fällt und habe es so eingefädelt, dass Separatisten die Boeing abgeschossen hätten.
ab 00:29
Chodakovskij: Was sagt jetzt Russland? Formal sagen sie: “Wir fühlen mit ihnen”, aber sie legen den Akzent auf den politischen Kampf, auf die Propaganda. Dabei müsste man, rein menschlich betrachtet, an die Menschen denken, die ihre Angehörigen verloren haben. Die Ukraine sagt und tut genau dasselbe.
ab 00:50
Journalist: Erlauben Sie eine Frage: Konnte denn die Volksmiliz mehrere Flugzeuge von der Ukraine aus abschießen? Sie sagten ja selbst: “Wir hatten Flugabwehrwaffen.” Das heißt also, alle Flugzeuge…
ab 01:06
Chodakovskij: Also dieser Mann von Reuters, der mit mir das Interview geführt hat, hat meiner Meinung nach als Journalist nicht ganz anständig gehandelt. Das war ja eine Information, die schon nach dem Interview aufgezeichnet wurde, bei einem privaten Gespräch. Mir ist natürlich klar, welchen Wert die Worte haben, die ich während eines Interviews sage. Mir ist klar, dass ich manche Dinge nicht aussprechen sollte. Aber in der Situation, in der ich von Mensch zu Mensch mit ihm spreche, weil er mir sympathisch ist…
ab 01:30
Chodakovskij: Ich bin kein Politiker. Ich bin ein aufrichtiger Mensch, wenn mir jemand sympathisch ist, spreche ich offen mit ihm. So habe ich mit ihm gesprochen. Er war ein netter Typ. Wir haben geredet. Und ich wollte ihm sagen, dass sich dort in dieser Zone keine Buk-Raketen von uns befanden.
ab 01:46
Chodakovskij: Ich habe ihm gesagt, ich habe gewusst, dass die Buk-Rakete zum Zeitpunkt der Tragödie dorthin unterwegs war, aber nicht ankam.
ab 01:51
Chodakovskij: Als die Tragödie passierte, wollte man Schuldzuweisungen, weil möglicherweise eine Buk vor Ort gewesen war, vermeiden. Deshalb wurde die Buk umgeleitet und zurückgeschickt.
ab 02:00
Chodakovskij: Ich wollte ihm also sagen, dass dort keine Buk-Rakete war. Sie war nur unterwegs dorthin.
ab 02:05
Chodakovskij: Aber die Tragödie passierte zu einem Zeitpunkt, als die Buk noch dorthin unterwegs war… laut der Informationen, die ich hatte… Aber ich habe nicht alle Informationen… Außerdem konnten meine Informationen auch falsch sein, aber selbst das, was ich wusste, sprach dafür, dass die Buk-Rakete noch gar nicht dort angelangt war.
ab 02:22
Journalist: Aber diese Buk-Rakete gab es, sie war letztendlich doch vorhanden.
ab 02:27
Chodakovskij: Nun, ich habe die entsprechende Technik, die habe ich jetzt. Dementsprechend hätte eine Buk-Rakete dorthin gelangen können. Es hätte eine Buk da sein können. Möglich wäre es. Verstehen Sie? Aber zum Zeitpunkt der Tragödie befand sie sich nicht an dem Ort, von dem aus gefeuert wurde.
ab 02:42
Chodakovskij: Sie konnte nur… Ich wusste, dass sie in Richtung auf diesen Ort losgeschickt worden war. Aber als es zu der Tragödie kam, wollte man sich keinen Beschuldigungen aussetzen. Deshalb wurde die Buk-Rakete meines Wissens – aber meine Informationen müssen nicht zuverlässig sein – zurückgeschickt. Zuverlässig wusste ich, dass die Volksmiliz die Boeing nicht abgeschossen hat.
ab 3:04
Chodakovskij: Weil die Volksmiliz in dieser Gegend nicht die Mittel hatte, um ein Flugzeug aus einer solchen Höhe abzuschießen. Solche Mittel hatte sie nicht. Die Volksmiliz hat die Buk nicht abgeschossen. Das weiß ich.
ab 03:14
Chodakovskij: Um mit meinem Gewissen im Reinen zu sein, habe ich im Nachhinein mit allen Kommandeuren gesprochen, und zwar auf einer persönlichen Ebene.
Das komplette Gespräch mit Alexander Chodakovskij ungekürzt und ungeschnitten:
Sie haben Infos für uns?
Mitglied werden
Steal our Story
Bedienen Sie sich! CORRECT!V ist gemeinnützig. Wir wollen mit unseren Recherchen Missstände aufdecken. Damit sich etwas ändert, müssen möglichst viele Menschen von diesen Recherchen erfahren. Deshalb freuen wir uns, wenn Sie unsere Geschichten nutzen, mitnehmen, weiterverbreiten – kostenlos. Egal ob lokales Blog, Online-Medium, Zeitung oder Radio. Es gibt nur eine Bedingung: Sie geben uns kurz Bescheid an info@correctiv.org. Dann wissen wir, wo unsere Geschichten erschienen sind. Das ist wichtig für uns und unsere Unterstützer. Bei Fragen können Sie sich jederzeit per E-Mail an uns wenden. Dankeschön!
Wollen Sie unsere Karte oben für Ihre Zeitung oder Ihr Online-Medium nutzen? Hier können Sie die Karten für jedes Land herunterladen. Dort finden Sie auch die iFrames (Deutsch + Englisch), mit der Sie die animierte Karte auf ihrer Website einbinden können.